Re: Attacke auf reiseradler in Tadschikistan

von: Da capo al fine

Re: Attacke auf reiseradler in Tadschikistan - 06.08.18 19:44

Hallo,
eher durch Zufall habe ich von dem Anschlag vor ein paar Tagen gehört und war erschüttert, da in den bisherigen Reiseberichten in erster Linie die überschwängliche Gastfreundschaft der Tadschiken gelobt wurde. Da ich Mitte August von Duschanbe den Pamir Highway ansteuere, hatte ich nun versucht mir ein deutlicheres Bild zu machen anhand der verfügbaren Medienberichte. Ich möchte hier mein subjektives Bild zusammen fassen und verlinke ein paar Quellen dazu.

Auf einer Seite wurde ein Video von dem Anschlag veröffentlicht: https://www.rferl.org/a/tragedy-in-tajik...-/29401621.html
In der kurzen Sequenz ist zu sehen, wie ein Auto wendet, auf ein sich bewegendes Objekt zusteuert und es anfährt. Man erkennt, dass das Objekt umkippt. Im selben Augenblick stößt der Filmende einen Laut aus, den ich als kurzen Schreckmoment deute. Der Filmende selbst sitzt in einem Auto und zwei weitere Autos kreuzen während dieses Vorfalls die Szene. Außerdem liegen auf der Straße schon irgendwelche Objekte verstreut. Ob es sich dabei auch um Radfahrer handelt kann ich nicht mit Gewissheit sagen.

Ich konnte nicht heraus finden, wie viele Autos an dem Anschlag beteiligt waren. Deshalb ist es schwer zu sagen, ob der Filmende und die beiden weiteren Autos zu den Attentätern gehörten. Den ausgestoßenen Laut des Filmenden deute ich jedoch als Überraschungsmoment eines unbeteiligten Zeugen. Wenn es so ist, dann besorgt es mich, dass er nicht eingegriffen hatte und stattdessen filmte. Die Radfahrer sollen ja zunächst angefahren und dann erstochen worden sein. Zu Beginn des Films sieht die Situation dort auf der Straße schon chaotisch aus – der Filmende hat das nicht zufällig eingefangen. Sofern die anderen beiden Autos nicht beteiligt waren sind noch mindestens zwei weitere Menschen nichtstuend davon gefahren.

Falls es wirklich so war, dass unbeteiligte Zeugen nicht eingeschritten sind, stellt sich mir die Frage nach dem Warum. Konnten sie die Situation erfassen? Hatten sie Angst? Konnten sie die Täter einem Lager zuordnen und haben sich bewusst entschieden, sich aus der Situation heraus zu halten? Kann man auf Hilfe der rechtschaffenden Einwohner hoffen falls einem ähnliches widerfährt, oder sitzt die Angst dort zu tief?

Der herrschende Präsident versucht wohl das Ausleben des islamischen Glaubens zu unterbinden (Verbot von Burka und langen Bärten, Besuchsverbot für Moscheen für Frauen und Jugendliche, Verbot der Mekka-Pilgerfahrt, Vorgaben, was in den Moscheen gepredigt werden darf). Angeblich als Maßnahmen gegen eine drohende Radikalisierung von Islamisten. Es wird aber auch vermutet, dass die Regierung das Land attraktiv für Touristen machen möchte. Zu diesem Zweck sollen Gebetsrufe verboten worden sein und Minarette an den Moscheen mussten zwangsweise zurück gebaut werden.
https://www.nzz.ch/international/asien-u...ligion-ld.23667

Ich glaube in den von euch verlinkten Artikeln war bereits die Rede davon, dass Tadschikistan für 2018 das Jahr des Tourismus ausgerufen hatte. Der kürzliche Anschlag auf die Touristen wird mit einer Ankündigung des Präsidenten in Verbindung gebracht die besagte, dass Korruption gegen Touristen künftig hart bestraft werden soll. Es soll daraufhin zu Ausschreitungen von Bürgern gekommen sein, die nicht akzeptieren wollten, dass Touristen besonders geschützt werden sollen, obwohl auch das Tadschikische Volk tagtäglich mit Korruption zu kämpfen hat und die herrschende Regierung selbst nicht unschuldig zu sein scheint in der Hinsicht.

In den zahlreichen Reiseberichten die ich über Tadschikistan las wurde wenig über die drastische Armut des Landes gesprochen. Viele Tadschiken verdienen sich als Arbeitsmigranten in Russland ihr Geld und sind dort einem starken Rassismus ausgesetzt. Gestern hatte ich mit einem in Österreich lebenden Tschetschenen darüber gesprochen, der das bestätigte. Er sagte mir, obwohl die Tadschiken in Russland die Jobs übernehmen, die keiner machen möchte und auch keinerlei soziale Unterstützung vom Staat erhalten, würden sie vom Großteil der Russen gehasst werden. Die jungen Tadschiken haben mit einer Perspektivlosigkeit im eigenen Land zu kämpfen und müssen sich ohne den familiären Rückhalt in Ländern durchschlagen, in denen sie sich nicht willkommen fühlen. Das soll mit ein Grund dafür sein, dass der IS vor allem in Russland leichtes Spiel damit hat, Tadschiken zu rekrutieren. Beispiele zum Ausmaß des erlebten Rassismus finden sich hier: https://www.novastan.org/de/tadschikistan/die-tadschiken-aussatzige-in-russland/

Die drohende Radikalisierung ist ein hausgemachtes Problem dessen Ursache der Machterhaltungswille der Regierung zu sein scheint. Die einzig bedeutende Oppositionspartei der derzeitigen Regierung war die Partei der Islamischen Wiedergeburt. Sie soll gemäßigt gewesen sein, die derzeitige Regierung hatte sie aber mit der Begründung einer extremistischen Ausrichtung verboten. Aktuell soll es keine nennenswerte Opposition geben. Der nachfolgende Artikel beschreibt, wie Menschen beim Versuch ihre Grundbedürfnisse zu decken von staatlicher Seite niedergeknüppelt wurden und warum sich keine neue Opposition im Land heraus bildet:
https://www.novastan.org/de/tadschikistan/tadschikistan-der-unvergessliche-horror-des-burgerkriegs/

Manche Menschen meiden Reiseländer, in denen das Volk vor der Regierung keinerlei Lobby hat. Wem das so geht, der sollte sich überlegen, ob er Tadschikistan bereisen möchte. Ich persönlich sehe es so wie bereits von Vorrednern aufgegriffen: Für das Volk, das im Moment nicht viel zum Leben hat ist der (nachhaltige) Tourismus wichtig. Außerdem sehe ich die Chance, dass durch die Reisenden die Belange der tadschikischen Bevölkerung in der Welt Gehör finden. Diese Probleme brauchen eine Bühne. Ich würde mir wünschen in künftigen Reiseberichten über Tadschikistan neben dem Lob über die Gastfreundschaft und die einmalige Natur mehr über die die Lebensrealität der Menschen zu lesen. Ihre Sorgen, ihre Freuden, inspirierende Initiativen die einen Wandel auf den Weg bringen.

Bedenklich finde ich, dass in den Berichten die Rede davon war die Regierung würde trotz des IS-Bekennervideos den Anschlag der verbotenen Oppositionspartei in die Schuhe schieben. Auch frage ich mich wie es sein kann, dass einige der vermeintlichen Täter ohne Prozess erschossen werden. Zwei der Täter mussten im Fernsehen mit offensichtlichen Misshandlungen im Gesicht ein Geständnis ablegen.
https://www.novastan.org/de/tadschikista...sich-zu-nutzen/

Wer durchs Land reist, dem sollte aber denke ich auch bewusst sein, dass Touristen durch das Verhalten der Regierung nicht unbedingt bei allen Bürgern willkommen sind. Für mich drängt sich nach dem Gelesenen das Bild auf, dass die geldbringenden Touristen von der Regierung gegenüber dem eigenen Volk bevorzugt werden.
Eines der Pärchen das bei dem Anschlag starb traf auf einem Pass zwei Mädchen, die die Reisenden mit einem Blumengesteck in der Hand und einem Lächeln im Gesicht begrüssten: https://www.instagram.com/p/Bla2Xvkh2kK/?taken-by=simplycycling

Ein anderer Reisender der die beiden unterwegs kennen lernte traf ebenfalls auf eines dieser beiden Pamiri-Mädchen. Vermute jedoch zunächst, es sei eines der steinewerfenden Kinder, von denen ihm unterwegs berichtet wurde: https://www.instagram.com/p/Bl6IUbOhhCU/?taken-by=thepedr

Steinewerfende Kinder traf er dann tatsächlich noch. In dem Foto das er von diesen Kindern machte liegt pure Ablehnung in den Gesichtern und dem Körperausdruck der Kinder. Mir drängt sich die Frage auf, mit welchen Vorurteilen diese Kinder aufwachsen, dass sie vorbeikommende Radfahrer mit Steinen bewerfen: https://www.instagram.com/p/BlDxvPhBFc4/?taken-by=thepedr

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Für mich stellt sich außerdem die Frage, ob es verantwortbar ist, als Frau (abschnittsweise) allein durch Tadschikistan & Kirgistan zu radeln oder ob ich vor Ort zwangsläufig nach Begleitung in den von Radlern frequentierten Unterkünften suchen sollte. Ein Vorredner hatte von Gerüchten über Vergewaltigungen durch Soldaten gesprochen. Das lese ich hier zum ersten Mal. Kann dazu jemand Angaben machen? Habt ihr allein/ zu zweit reisende Frauen unterwegs getroffen oder wart selbst unterwegs? Welche Erfahrungen könnt ihr teilen?