Re: Sechs Jahre unterwegs - Sechs Jahre auf Reise

von: fahrradflo

Re: Sechs Jahre unterwegs - Sechs Jahre auf Reise - 09.11.18 16:59


Bevor es zum zweiten Teil geht, ein paar Anmerkungen zu den Antworten hier:

Diese Artikel waren sehr schwierig zu schreiben, besonders der jetzt folgende zweite Teil. Deswegen bin ich froh über jeden Kommentar und Rückmeldung.

Natürlich ist es einfacher mal eben schnell einen unterhaltsamen Reisebericht zu verfassen anstatt sich mit tieferen Ebenen einer Reise auseinander zu setzen und diese Gefühle auch noch in Worten zu formulieren. Oder es ist einfacher so zu leben und zu denken wie die meisten anderen Menschen, mit zu gehen mit dem gewohnten und anerkannten. Es ist einfacher, andere Leute zu beneiden anstatt selber etwas zu verändern.

Es ist immer am einfachsten den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Deswegen kann ich auch nachvollziehen warum so viele Leute von einem anderen Leben träumen, aber nur schwer etwas verändern. Und natürlich, um so länger man in so einem normalen Leben drinsteckt, umso schwieriger ist es auszubrechen, besonders mit Familie und Kindern.

Ob ein Reiseleben also einfacher ist? Nicht unbedingt, aber für mich ist es erfüllender und lehrreicher , trotz der ganzen inneren und äußeren Widerstände die man zu überwinden hat. Und trotz der negativen Aspekte, um die es jetzt hier geht.

Ich probiere diesmal eine kleiner version der fotos zu verlinken, hoffentlich klappts.


Wie ist es wirklich den Traum zu leben?

Teil zwei: die schlechten Seiten und das vermisste


Reisen hat nicht nur gute Seiten. Besonders wenn man - wie ich - für lange Zeit und alleine unterwegs ist, gibt es doch einen Preis der dafür zu zahlen ist. Positiv verfälschte Darstellungen eines Reiselebens findet man auf Facebook und Instagramm mittlerweile zu hauf. Da werden nur die inszenierten, glücklichen Momente gezeigt, Sehnsüchte mit Strandselfies und Sonnenuntergängen geweckt und damit der Anschein erweckt, den Traum vom Globetrotter zu leben, sei immer perfekt und einfach.
Das folgende ist eine (sehr persönliche) Introspektive. Es geht mir nicht darum mein Herz auszuschütten (oder doch?), sondern zu zeigen welche negativen Folgen jahrelanges durch die Welt ziehen mit sich bringen kann.




Alleine oder einsam?

“Bist du allein?” ist wohl eine der Fragen die mir am häufigsten gestellt wird. “Nee, ich hab ja mein Fahrrad dabei.” witzel ich oft, doch in vielen Kulturen stösst es auf großes Unverständnis etwas alleine zu machen oder überhaupt alleine sein zu wollen. Für mich ist es dagegen etwas normales und etwas was ich auch schätze. Schon vor dieser Reise war ich sehr selbstständig und habe auch gerne Zeit nur mit mir selber verbracht. Und alleine zu sein bedeutet nicht, auch einsam zu sein.

“Bist du nicht einsam, nach so langer Zeit?”
fragen mich dann andere Reisende. “Manchmal schon, aber das gehört zu der Reise dazu.”, ist meine Standardantwort.

In den ersten Jahren war gar keine Zeit zum einsam sein. Ich war nie länger als acht Wochen in einem Land (mit Ausnahme von Indien) und fast nie länger als zehn Tage an ein- und demselben Ort. Die meisten Tage war ich auf dem Rad. Die Zeit war aufregend, jeden Tag sind so viele Sachen passiert, ich habe so viele Menschen getroffen und so viele nette Begegnungen gehabt. Auch an Familie und Freunde habe ich nicht oft gedacht, mal ein paar Monate weg sein, oder auch ein, zwei Jahre, das ist doch nicht so lang.
Ich war befriedigt durch die vielen kurzen sozialen Kontakte, nur ein paar Minuten dauernd, oder einen Tag oder auch mal etwas länger. Ich habe diese Anonymität genossen, das dich keiner kennt, keiner etwas über dich weiß.
Fremd gefühlt habe ich mich schon. Nur ein paar Länder östlich von Deutschland sieht dir jeder an das du von wo anders bist. Spätestens als in Pakistan und Indien die Menschenmengen immer größer wurden, die mich und mein Rad bestaunten, wurde mir immer mehr bewusst, ich bin nicht von hier. Es wurde immer schwieriger alleine zu sein und sich diesen manchmal doch recht stressigen Situationen zu entziehen. In Indien war ich oft froh abends in einem Hotel zu übernachten, einfach die Tür hinter mir zuzumachen und meinen eigenen Raum zu haben – ganz ohne neugierige Beobachter.

Aber Einsamkeit? Damals noch nicht, oder zumindest nicht so häufig oder so belastend. Doch in den letzten Jahren wurden die Momente häufiger und eine Analyse der Situation macht auch klar, warum:


Einsamkeit hat viele Gesichter
Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir sind darauf ausgelegt zusammen zu leben, unsere Leben zu teilen. Jeder Mensch braucht ein gewisses Maß an Austausch, an Liebe, an sozialen Kontakten. Menschen brauchen andere Menschen, nicht nur aus Überlebensgründen. Auch Nomaden leben in Familienverbünden und ziehen nicht einsam umher. Die Geschichten vom einsamen Hermit in seiner Höhle mögen sich zwar toll anhören, doch nur wenige Menschen scheinen für solch ein Leben geeignet zu sein, zumindest nicht ohne auf Dauer einen Preis dafür zu zahlen. Denn auch Studien belegen, Menschen sind weniger glücklich und anfälliger für Krankheiten wenn sie nicht ausreichend soziale Interaktionen haben.

Auf Reisen, besonders in asiatischen Ländern, ist man zwar ständig von Menschen umgeben und hat auch viele soziale Begegnungen, doch sind diese in der Regel sehr kurz und sehr oberflächlich, aufgrund von zeitlichen Beschränkungen und Sprachbarrieren. Als allein-reisender Radler, fernab des Touristentrails, vergehen manchmal Wochen bis man einen anderen Ausländer oder Touristen trifft, um mal wieder ein Gespräch auf Englisch oder Deutsch führen zu können. Es ist schwer sich auszudrücken weil einen niemand versteht und man bekommt kein Input weil man die anderen nicht versteht. Auf Dauer führt das zu einem Gefühl von Isolation.

Auch hier in Südamerika ist es oft so. Solange mein Spanisch nicht gut genug ist, um richtige, tiefere Unterhaltungen zu führen oder zu verstehen, schalte ich oft in der Gegenwart anderer innerlich ab, da ich sowieso nichts verstehe. Ich habe es satt mich nicht vollständig und aufwandlos ausdrücken zu können. Ich bin dann in meinen Gedanken, nur körperlich anwesend, und langweile mich oft oder entziehe mich der sozialen Situation um alleine zu sein.
Denn wenn ich alleine in der Natur bin, fühle ich mich nicht so oft einsam und bin meistens sehr zufrieden. Doch in Anwesenheit anderer Menschen, zu denen ich keine richtige Verbindung aufbauen kann, oder in großen Städten wo ich niemanden kenne, dort kommt die Einsamkeit schon öfters.


Freunde und Familie

„Freunde kann man überall machen!“, sage ich immer. Besonders mit dem Rad ist das einfach, da man überall auffällt, Interesse weckt, und anscheinend auch selten als bedrohlich wahrgenommen wird. Es ist leicht mit Menschen in Kontakt zu kommen und Freunde zu machen. Doch diese Freundschaften sind oft nur von kurzer Dauer und oberflächlich. Sie halten genau so lange, bis ich weiter radle. Auch wenn ich mit vielen Menschen denen ich begegnet bin noch in Kontakt stehe, für eine richtige, eine tiefe Freundschaft, bedarf es, dass man Zeit miteinander verbringt, gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen hat, sich besser kennenlernt. Oft ist nur die Basis für eine Freundschaft gelegt, wenn ich eine Person dann nie mehr wiedersehe, verläuft sich auch irgendwann der Kontakt. Doch manchmal klappt es und ich treffe jemanden wieder und verbringe Zeit mit ihm. Und so sind schon einige Freundschaften entstanden, welche sich auch wohl durch mein Leben ziehen werden.

Und dann sind da noch die alten Freunde, von zu Hause. Nach einigen Jahren auf Reise stehe ich nur mit einigen wenigen in losem Emailkontakt. Stand-by Freunde nenne ich die. Wenn wir uns wiedersehen wird (hoffentlich) alles so sein wie früher. Bis dahin geht (oder radelt) jeder seinen eigenen Weg.

Auf Reisen bin ich also fast nie von guten Freunden umgeben. Die mich gut kennen, die mich verstehen, die mich beraten können, die mich trösten können, die mit mir lachen und weinen. Vor denen ich kein Blatt vor den Mund nehmen muss und vor denen ich mich nicht verstellen muss.
Ich bin meistens auf mich alleine gestellt.

In Kontakt bleiben ohne einen Facebook Account zu haben ist schwierig heutzutage, einige Leute benutzen emails gar nicht mehr. Seit fast drei Jahren habe ich ein Smartphone und Whats App. So höre ich von verpassten Hochzeiten und bekomme Babyfotos geschickt und kann ein wenig daran teilnehmen wie sich die Leben meiner Freunde entfalten.

Meine Eltern habe ich vor drei Jahren das letzte mal getroffen


„Familie? Ist doch nicht so wichtig!“
, dachte ich lange. Ich dachte mit denen habe ich doch schon genug Zeit in meinem Leben verbracht. Doch nach einigen Jahren auf Reise ändert sich die Perspektive. Familie ist super wichtig. Das sind die Menschen die mich unterstützen, die mich seit meiner Geburt kennen, die mich so akzeptieren wie ich bin. Mit diesen Menschen habe ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht. Und diese Menschen habe ich teilweise seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Mit meinen Eltern und mit einem meiner Brüder habe ich vor drei Jahren Urlaub in Indonesien gemacht, da ist es also nicht ganz so lange her. Doch an ihrem Leben nehme ich nicht teil, außer mal ein paar Fotos in der WhatsApp Familiengruppe zu betrachten oder meinerseits ein paar Fotos zu senden. Doch das ist nur schwerlich ein Ersatz für direkten Kontakt. Meine Familienbeziehungen sind also auch eher auf Stand By Modus.


Heimweh

Heimweh kenn ich nicht. Dagegen bin ich immun. Dachte ich immer. Während bei einigen Reisenden das Heimweh schon nach ein paar Wochen einsetzt, hat es bei mir einige Jahre gedauert, bis ich mich so richtig nach Zuhause sehnte. Abgesehen von einigen Momenten wo ich krank war, z.B. mit Dengue Fieber in Kambodia, oder mit Lebensmittelvergiftung in Indien und mir nichts lieber wünschte als zu Hause zu sein und mich von meiner Mutter bemuttern und gesund pflegen zu lassen, wollte ich eigentlich nie nach Hause. Selbst Weihnachten war es für mich in Ordnung wo anders zu sein, mit anderen Menschen, mit einer anderen Familie zu feiern. Doch auch das hat sich im letzten Jahr geändert. Immer öfters male ich mir aus, wie es wohl wäre zu Hause zu sein. Bei meinen Eltern, in dem Haus wo ich aufgewachsen bin. Durch die Straßen der Kleinstadt zu laufen, Kindheitserinnerungen wach werden zu lassen. An Orten und unter Menschen zu sein welche mir sehr vertraut sind, anstatt ständig neue Personen zu treffen und mich an neuen Orten zurechtfinden zu müssen. Nachts tauchen meine Geschwister in meinen Träumen auf und tagsüber wandern meine Gedanken immer wieder in die Zukunft. Es entstehen Fantasieunterhaltungen in meinem Kopf die ich möglicherweise führen werde wenn ich wieder zu Hause bin. Richtige Sehnsucht kommt manchmal auf und ich frage mich, was mich eigentlich davon abhält, jetzt direkt nach Hause zurück zu kehren.


Und die Liebe?
“Wie ist das denn mit der Liebe?” ist eine Frage die oft vorsichtiger gestellt wird, die aber berechtigt ist. “Mein Fahrrad ist meine Freundin.” ist wieder eine dieser Standardantworten, aber damit ist diesem Artikel natürlich nicht zu Genüge getan. Ich muss schon etwas persönlicher werden.

Da bedarf es erst mal einer Definition von Liebe oder zumindest von den Verlangen und Begehren (oder sogar Bedürfnissen) die ein jeder Mensch hat. Das Verlangen geliebt zu werden, respektiert und akzeptiert, verstanden zu werden. Das Verlangen nach Nähe, Wärme, Zuneigung. Das Begehren nach Intimität, nach körperlicher Nähe, nach Streicheleinheiten, Küssen, Liebkosungen bis hin zu dem Verlangen mit jemanden schlafen zu wollen – sich auf dieser der intimsten Ebenen zu verbinden. Das Verlangen, Liebe zu geben. Nach emotionaler Balance. Das Verlangen nach Zweisamkeit. Nach einem festen Partner im Leben. Oder auch das Begehren mit vielen unterschiedlichen Partnern schlafen zu wollen (welches bestimmt nicht nur ein männliches Begehren ist).

Wie auch immer die Begehren und Verlangen von Menschen zusammengesetzt sind, festzuhalten ist wohl, dass jeder Liebe und Zuneigung benötigt und es eine der essentiellen Energien im Leben ist. Es ist eher ein Grundbedürfnis zum leben als etwas optionales.
Doch um die oben genannten Verlangen zu erfüllen, bedarf es nicht unbedingt einer langen Beziehung. Wenn man offen füreinander ist, kann man Intimität in einem kurzen Zeitraum herstellen und man kann lernen, jemanden zu lieben ohne zu vermissen, ohne Eifersucht und ohne Anhaftung. Doch dies ist leichter gesagt als getan.


Liebeskummer gibt es auch
Meine Strategie war es lange Zeit, mich nicht zu verlieben. Zumindest nicht zu viel. Doch die Liebe geht nicht durch den Kopf sondern durchs Herz. Und das fühlt was es will. Verliebt habe ich mich also trotzdem, aber oft habe ich lieber ein wenig Distanz gewahrt, mich nicht komplett auf jemanden eingelassen, lieber versucht die Liebe zu kontrollieren. Meine Freiheit war mir wichtig und alleine ist es oft auch einfacher. Auch die Angst verletzt zu werden spielte für mich eine Rolle, denn Liebe war für mich auch immer mit Schmerz verbunden.
Denn der Drang weiterzureisen, war immer stärker und wichtiger. Umso länger ich mit jemandem zusammenblieb, umso schmerzhafter und schwieriger war oftmals die Trennung. Die Sehnsucht und die Zweifel, ob meine Entscheidung zu gehen auch richtig war. Das manchmal unbequeme Wissen, dass es für mich als „weiterziehender“ einfacher sein mag, als für das Mädchen welches in ihrer gewohnten Umgebung zurückbleibt. Die einsamen Abende im Zelt, mich zurücksehnend in die Arme meiner letzten Liebe und gleichzeitig wissend, dass ich sie wohl nie mehr wiedersehen werde.

Meine Beziehungen in den letzten sechs Jahren waren also immer nur von kurzer Dauer. Von einigen Tagen bis zu zwei Monaten. Und trotzdem, oder gerade wegen der kurzen Dauer, sehr intensiv. Denn immer war ich in dieser Anfangsphase der Verliebtheit, wo der andere noch neu und interessant und exotisch ist. Wo man sich noch nicht gut genug kennt und die Hormone alle Zweifel am anderen unterdrücken und einen einlullen in den Liebestaumel.
Da hilft natürlich auch die Überzeugung, dass die Modelle “ein Partner fürs Leben” und “nur ein Partner zur selben Zeit” für viele Menschen nicht die richtigen sind, sondern eher eine romantisierte Idealvorstellung. Ich weiss dass man mehrere Menschen gleichzeitig lieben kann und es keinen perfekten Partner gibt, der alle Bedürfnisse erfüllen kann die man so hat. Scheidungsraten und die Normalität des Fremdgehens sprechen da für sich.

Aber was ist denn, wenn ich mal wirklich eine festere und längere Bindung eingehen will? Wie gehe ich damit um, wenn nach ein paar Wochen der erste Liebessturm erschwächt, die Gewohnheit einsetzt, wenn mein Verlangen nach Veränderung, nach Neuem (besser gesagt einer neuen), mich weiter treibt, den Partner sogar unattraktiv erscheinen lässt? Damit umzugehen habe ich nicht gelernt in den letzten Jahren.


Suche oder Flucht?
Eine Reise ist oft eine Suche nach etwas oder eine Flucht vor etwas. Oder eine Mischung aus beidem, wie bei mir. Diese Rastlosigkeit, dieses Gefühl, immer weiter zu wollen, was sich am Anfang der Reise oft schon nach zwei Pausentagen, spätestens nach einer Woche eingestellt hat, kann sehr nützlich sein. Besonders wenn man ganze Kontinente mit dem Rad durchqueren will.
Es kann aber auch durchaus negative Aspekte haben: Wenn man nie zufrieden ist wo man gerade ist. Immer dem nächsten Ziel hinterher jagt. Der nächsten Attraktion, dem nächsten Land. Wenn Dinge zu schnell langweilig werden, man immer Veränderung braucht, neue Umstände, größere Herausforderungen. Wenn die Welt zu groß erscheint und man meint alles mal gesehen haben zu müssen. Immer weiter zu wollen, immer mehr Orte und Länder besuchen zu wollen, man nie das Gefühlt hat irgendwo anzukommen. Dann sollte man innehalten und reflektieren warum man überhaupt reist. Wovor rennt man davon? Wonach sucht man eigentlich? Geht es nur darum Destinationen, Länder und Erfahrungen abzuhaken oder geht es doch eher um den Weg? Um das Leben im Hier und Jetzt?


Reisen macht müde

Wenn man allerdings das Gefühl hat alles schon gesehen zu haben, alles zu kennen in einem Land, wenn einen nichts mehr beeindrucken kann oder man anfängt, Dinge zu vergleichen „Die Tempel in der Stadt waren aber viel schöner als dieser!“ , „Dieser Strand ist gar nichts im Vergleich zu den Stränden auf der anderen Insel!“. Oder wenn man gar keine Lust mehr hat auf neue Sachen, eine Übersättigung erreicht hat, dann spricht man vom Reiseburnout, welchen jeder Reisende mal hat der lange unterwegs ist. Dagegen hilft nur mal Pause zu machen, es langsam angehen zu lassen.
Als ich nach 2,5 Jahren ständig unterwegs sein in Australien ankam und dann direkt für drei Monate allein durch das einsame Outback radelte, war es höchste Zeit für eine Pause. Nicht mehr begeisterungs- und aufnahmefähig für neue Dinge sowie vereinsamt durch mangelnde und zu kurze soziale Kontakte, verbrachte ich vier Monate in Adelaide, wo mich erst eine Familie liebevoll wie einen eigenen Sohn in ihr Haus aufnahm und ich anschließend eine Freundin fürs Leben kennenlernte, die mich jedem ihrer Freunde vorstellte und für genügend soziale Kontakte sorgte.
Später verbrachte ich einige weitere Monate in Melbourne im verrückten Crunchytown, ein überfülltes Couchsurfing Community Haus, wo Gefühle der Einsamkeit und Isoliertheit quasi gar nicht aufkommen konnten.Auch in Neuseeland ließ ich es langsam angehen und blieb für ein halbes Jahr an einem Ort,genauer gesagt im Crows Nest, eine andere Gemeinschaft Reisender. Irgendwann ist es immer Zeit für eine Pause und je länger ich unterwegs bin, um so langsamer reise ich, um so länger und öfters bleibe ich an bestimmten Orten und gehe tiefere Verbindungen ein.


Der egozentrische Eigenbrötler

Obwohl der Mensch ein soziales Wesen ist, ist er gleichzeitig auch sehr Ich-konzentriert.Wer viel Zeit alleine verbringt, läuft nicht nur Gefahr zu vereinsamen sondern auch, egoistisch oder zumindest egozentrisch zu werden. Wer alleine reist, muss nur für sich selbst Entscheidungen treffen, ist nur für sich selber verantwortlich, muss nur an sich selber denken. Es gibt nicht viele Kompromisse einzugehen, auf niemanden zu warten, man ist sein eigener Herr oder Frau.
Ich bin an diese Dinge gewöhnt und so fällt es mir manchmal schwer, mit anderen oder in Gruppensituationen nicht ungeduldig zu werden. Alleine mag es einfacher sein, doch nicht unbedingt schöner. Auch steigt die Gefahr, ein komischer Kauz zu werden, je mehr Zeit man alleine verbringt. Und ich rede hier nicht von Selbstgesprächen, so etwas sehe ich mittlerweile noch als ziemlich normal an.

Entfremdung von der Heimat
„Aussteiger“, „Hippie“, „Globetrotter“ - so nennen mich manchmal Leute oder ich bezeichne mich der Einfachheit halber selber so, ohne diese Labels besonders zu mögen. Reisen verändert – gar keine Frage – und erweitert den Horizont. Es zeigt einem neue Perspektiven im Leben auf und sein eigenes Potenzial.
In den ersten Jahren konnte ich mir noch vorstellen später mal relativ „normal“ zu leben. Das heisst in der kapitalistischen Mainstream-Gesellschaft einen Vollzeitjob zu haben und mein Leben so zu leben wie mich Schule und Gesellschaft vorbereitet haben. Heute weiss ich, dass ich nicht mehr dorthin zurück will. Immer weniger verstehe ich, wie Menschen so leben können, wie sie soviel arbeiten können und (aus meiner Sicht) so unbewusst die Welt wahrnehmen und handeln. Das Verständnis für Menschen, welche nicht zufrieden sind mit ihrer Arbeit, ihrem Leben, welche aber nichts ändern, nimmt ab. Das Verständnis für ihre (mir manchmal lächerlich erscheinenden) alltäglichen Probleme und Sorgen nimmt ab, ich kann mich schwieriger in ihre Situation versetzen. Nicht das ich mich besser oder schlauer fühle, es geht hier nicht um Arroganz – aber meine Erfahrungen und Lebensumstände in den letzten Jahren sind so grundsätzlich verschieden gewesen, das eine Art Entfremdung eingetreten ist. Ein simples Leben ohne große finanziellen Sorgen, ohne Verpflichtungen und die meiste Zeit frei gestaltbar, ist schon sehr anders als das Leben eines Durchschnittsdeutschen. Zudem die viele Zeit die ich in den letzten Jahren mit ähnlich denkenden, ähnlich lebenden Menschen verbrachte. Reisende, Alternative, Hippies, Freaks, anders lebenden. Das kann dazu führen sich wie in einer Parallelgesellschaft oder sogar Parallelwelt zu fühlen und die Distanz zu anderen Menschen zu vergrößern. Im schlimmsten Falle tauchen sogar verurteilende und abgrenzende Gedanken auf:„ Die essen ja immer noch so viel Fleisch – wissen die nichts vom Klimawandel?“ oder „ Haben die immer noch nicht kapiert dass das neuste Smartphone nicht unbedingt glücklicher macht?“
Spätestens dann kann man nicht nur von Entfremdung sprechen sondern doch auch von einer Position der Arroganz, welche es zu korrigieren gilt.

Wobei Entfremdung ja in beide Richtungen funktioniert, es kommt nur auf die Perspektive an. Ich kann andere Menschen oftmals als entfremdet zur Natur, zu sich selber und zum Leben im allgemeinen ansehen, und andere Menschen sehen mich als entfremdet zu ihrem normalen Leben, zu ihrer Lebensrealität an.
Nach so langer Zeit unterwegs und dem vollzogenen Perspektiven- und Ansichtenwechsel frage ich mich öfters, wie es denn sein wird wenn ich in mein altes Umfeld, sprich Freunde und Familie in Deutschland zurückkehre. Wie werde ich reagieren und wie die Leute, welche sich vielleicht nicht so sehr verändert haben? Wird es da nicht auch Konfrontationen geben? Werde ich mich anpassen oder passe ich nicht mehr dort hin?


Was ich vermisse

Lange Zeit nicht wissend was ich auf die Frage nach dem Vermissten antworten sollte, fällt es mir nach sechs Jahren Reisens leichter eine Antwort zu finden.

Ich vermisse von Menschen umgeben zu sein die mich gut kennen und die ich gut kenne. Mit meiner Familie zu sein, mit Eltern und Geschwistern, meine neue Nichte kennen zu lernen. Mit alten Freunden zu quatschen und etwas zu unternehmen. Teil von ihrem Leben zu sein.

Ich vermisse das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit welches einem ein Ort gibt den man gut kennt. Die Gegend, Stadt, das Haus wo ich aufgewachsen bin.

Ich vermisse es, ein festes Zuhause zu haben. Meinen eigenen Raum, mein eigenes kleines Reich.

Ich vermisse soziale Beziehungen die länger dauern als nur ein paar Tage und welche tiefgehender sind als reine Bekanntschaften.

Ich vermisse es, in einer Umgebung zu sein, wo ich nicht der Fremde bin, wo ich nicht auffalle und nicht als besonders gelte, wo mich die Menschen genauso behandeln wie jeden anderen auch.

Ich vermisse es, ein Teil von etwas zu sein. Nicht nur in meinem eigenen Leben, meiner eigenen Reise zu leben, sondern das Leben mit anderen zu teilen. In einer Gemeinschaft zu leben, etwas dauerhaftes zu erschaffen. Ein Projekt, eine Aufgabe zu haben und positiv auf meine direkte Umgebung und die Welt einzuwirken.

Leben bedeutet Veränderung

Seit gut einem Jahr spüre ich die negativen Effekte mehr als je zuvor. Das bedeutet nicht, dass ich gar keinen Spaß mehr am reisen habe oder dass ich mich nur noch von Einsamkeit und Heimweh geplagt durch die Welt schleppe. Aber es bedeutet, dass sich etwas grundlegendes verändert. War meine Art zu leben und zu reisen in den letzten Jahren vollkommen erfüllend und genau das was ich machen wollte, findet gerade eine Veränderung statt und eine Neuausrichtung. In welche Richtung genau wird sich noch zeigen, doch ich fühle, dass es mal an der Zeit ist eine Pause vom Reisen zu machen und zwar in der Heimat Deutschland.