Re: Alpes Occidentales „PACA“

von: veloträumer

Re: Alpes Occidentales „PACA“ - 13.11.18 20:18

E-3 Mußestunden vor und nach der Reise: Kartenspiele, Lektüren und Ohrenschmaus

Michelin 527 Region Provence-Alpes-Côte d’Azur 1:200000
(bis auf 1-2 Ausnahmen lässt sich die Tour grundsätzlich mit dieser einen Karte exakt planen und fahren!)

IGN 158 Gap/Briançon/Parc national des Écrins 1:100000

IGN 164 Carpentras/Digne-les-Bains/PNR du Verdon, PNR Luberon 1:100000

IGN 165 Nice/Draguignan/Parc national du Mercantour 1:100000

IGN 172 Toulon/Aix-en-Provence/Calanques, Côte Varoise 1:100000

IGC 8 Alpi Marittime e Liguri 1:50000

Wer sich für die Randzonen oder Schnittpunkte dieser Tour interessiert, kann den Horizont auch in bereits von mir verfassten Berichten auf andere Gebiete ergänzen oder erweitern, hier die überschneidenden und angrenzenden Regionen dazu hervorgehoben:

Große Alpentour der 2000er (2005): Queyras, Hautes Alpes, Haut Verdon, Mercantour u.a.m. Briançon, Guillestre, Col de Larche, Col de la Lombarde, Gorges du Cians, Var/Puget-Théniers, Col d’Allos, Lac de Serre-Ponçon (Etappen 14.-20.7.)

Großer Alpen-Südbogen (2007): Queyras, Vaucluse/Luberon u.a.m. Valle Varáita, Col Agnel, Guillestre, Embrun, Lac de Serre-Ponçon, Mont Ventoux, Sestrière (Val Chisone) (Etappen 16.-20.6./24.6.)

Westalpen 2009: Géoparc Haute-Provence, PNR Préalpes d’Azur, Niçoise, Mercantour u.a.m. Seyne-les-Alpes, Digne-les-Bains, Lac de Castillon, Briançonnet/Clue de St-Auban, Var/Puget-Théniers, Gorges du Cians, Vallée de la Vésubie, Col de la Lombarde, St-Paul-s-Ubaye (Teile 3 & 4)

Giro Piemontese Grande (2016): Monviso-Land, Mercantour u.a.m. Nasce del Po, Valle Varáita, Valle Máira/Chiappera, Valle Stura, Vallon de Casterino, Vallée des Merveilles (LGKS Tende/Casterino) (Kapitel P-6, P-7)



Meine Leseexerzitien in der okzitanischen Literatur sind noch ein work-in-progress – wenn nicht ohnehin eine stetig offene Ader, soweit sich Entdeckungen auftun. Insofern seien hier einige Bücher in kurzen Schlaglichtern angerissen, deren Lektüre verschiedene und bereichernde Facetten auf das okzitanische Land wirft. Wieder mal ist ein Teil der Bücher nur antiquarisch erhältlich. Diese subjektive Auswahl darf hier keinesfalls als lexikalische Literaturenzyklopädie Okzitaniens bzw. der Region PACA interpretiert werden.

Quasi ein Anknüpfungspunkt zur vorjährigen Piemont-Reise liefert der Waldenser-Roman „Die Gerechten des Luberon“ von Christrose Rilk (Brunnen Verlag). Die in Stuttgart geborene und als Pfarrerin in einer Waldensergemeinde mit dem Fachgebiet vertraute Autorin, zeichnet in einer dialogischen Romanstruktur mit ihren Figuren eine Familiengeschichte aus der Provence des 16. Jahrhunderts nach, die auf alten Prozessakten und anderen historischen Quellen beruht. Die Waldenser stießen mit ihrer neuen Glaubensrichtung damals auf den Widerstand der traditionell verankerten Vorstellung der Alten und Etablierten. Ein immer wieder auftretender Generationen-Widerstreit von Tradition und Aufbruch einer aufbegehrenden Jugend, wie auch hier mit viel Leid, Intrige und Machtgier begleitet. Ich möchte dem Klassiker in der eher bescheidenen Waldenser-Literatur nicht auch eine lebendige Struktur abstreiten, ich selbst habe in die langatmige Geschichte jedoch nie mitreißend hineingefunden, sodass ich bisher nicht über das erste Drittel des Buches hinausgekommen bin. Da fehlen mir vielleicht etwas die erzählerisch-fantastischen Elemente wie auch eine einfallsreiche und kraftvolle Sprache.

Da führt „Grünes Paradies“ mit den Geschichten aus Okzitanien Erzählers und Dichters Max Roqueta (Trikont-Dianus Buchverlag) in eine ganze andere Welt an der Grenze von zivilisationshistorischer Kritik von Heimatzerstörung und fantastischer Überzeichnung, die bis in märchenhafte Erzählwelten hineinwandert. Manche poetische Sprachgestalt kontrastiert dabei die beklemmenden Inhalte der Geschichten. Man mag da nicht jeder Geschichte ganz im Rationalen folgen können, aber auch die Sprachgestalt kommt an ihre Grenzen. Denn Roqueta schreibt seine Werke in okzitanischer Sprache und versteht sich auch als Kämpfer für die Bewahrung der kulturellen Vielfalt, der dem französischen, nivellierenden Kulturzentralismus die Stirn bieten möchte. So ist denn der ebenfalls im Buch enthaltenen streitbare Kulturdialog mit Henri Giordan noch fast interessanter als die Geschichten selber, dessen sprachlicher Gehalt sicherlich auch mit der schwierigen Übersetzung etwas auf der Strecke bleiben muss.

Die Welt des Fantastischen betreten wir endgültig mit „Provenzalische Märchen“ herausgegeben, übersetzt und mit Nachwort von Felix Karlinger und Gertrude Gréciano (Eugen Diederichs Verlag). Wie schon mit Max Roqueta selbst überschreiten hier die Herkunftsorte der Märchen den Raum der Provinz PACA bzw. Provence, denn der provenzalische Sprachraum bezeichnet über die Provinz hinaus den Raum, der auch als okzitanischer Sprachraum bezeichnet wird. Für die parallele Verwendung der Begriffe sind eher niedergelegte deutsche und internationale Forschungsschriften verantwortlich, in denen der Begriff „provenzalisch“ offensichtlich häufiger den Niederschlag fand als der Begriff „okzitanisch“ (von langue d’oc = Languedoc, also auch über die Region des heutigen Languedoc hinaus zu verstehen). Dabei ist das Provenzalische oder Okzitanische auch nur ein Sprachraum, der aus verschiedenen Dialekten besteht, die solche Eigenständigkeit haben konnten, dass man einander nicht verstanden hat. Im Falle der Märchen ist dabei die Erzähl-, spätestens aber die Schriftsprache nicht unbedingt authentisch zur Entstehungsregion – will heißen, dass das Französische des Nordens bereits früh auch das Okzitanische verdrängt hatte, spätestens mit der schriftlichen Niederlegung der Märchen. Wie dem auch sei, zerfließen die Unterschiede der Sprachen in der Übersetzung sowieso. Immerhin listet das Buch die Märchen einmal nach Herkunftsregionen und einmal nach Märchentypen, sodass man gezielt die Geschichten nach verschiedenen Kriterien ansteuern kann.



Weil wir gerade beim erweiterten provenzalischen Sprachraum, dem langue d’oc, dem Okzitanien zwischen Limousin und Roya-Tal sind, ein kleiner Tipp in Sachen Musik aus diesem übergreifenden Raum. Wahrlich üppig ist die Auswahl Alter Musik heute, dass dies hier nur eine Anregung aus einem schon alten CD-Schrank sein kann. „Forgotten Provence – Music-making in the South of France 1150-1550“/The Martin Best Consort (Nimbus Records) versammelt gesangsbetonte Stücke aus unterschiedlichen Epochen und Regionen, in denen meditativer Sakralgesang mit sanft akzentuierten rhythmischen Tanzformen wechseln. Die eher sparsame Instrumentierung lässt viel Raum für den Ausdruck der Sprache. Zentren der niedergelegten Noten waren Montpellier, Limoges und Alba, trugen aber Stücke aus verschiedensten Regionen – also auch jenseits der Rhone – zusammen, da sie wichtige Schnittstellen von Pilgerwegen waren.

Ein Autor, der exakt aus der beradelten Region stammt, ist Marcel Pagnol. Dessen Roman „Die Wasser der Hügel“ (Serie Piper) spielt in einem Bergdorf im Hinterland Marseilles, unmittelbar bei Pagnols Heimatort Aubagne (an dem ich daselbst wenige Kilometer entfernt via Gemenos vorbeigefahren bin) und wurde sogar u.a. mit Yves Montand und Gérard Dépardieu verfilmt. Wohl selten ein gutes Buch, in dem nicht auch Habgier und Intrige eine Rolle spielt, erinnern wir uns an den ersten Lesetipp. Doch Pagnol gelingt es, die die dialogische Romanerzählung mit ungeheurem Sprachwitz anzureichern, eine lebendige Bühne des Fabulierens zu bereiten, nicht nur die Personen lebendig aufleben zu lassen: „Die Maultiere, denen es langweilig geworden war, hatten den leeren Karren umgedreht und kamen den Abhang mit Trab herunter.“ Da huschen Bilder von „tauben Stichen“ oder „stachligen Wangen“ vor des Lesers Auge. Die Frau des Buckligen kommentiert den selbst gelobten untrüglichen Ortssinn ihres Gatten mit „Du machst deine Reisen wie eine Brieftaube“. Ich fühle mich ertappt, meine Reisen immer mehr mit Wiederkehr an Orte mir bekannter Grashalme zu verknüpfen und sie auf ihren veränderten Wesenszustand zu prüfen. Der Radler also eine Brieftaube?



Große Poesie-Geschichte trägt die Provence durch Francesco Petrarca, der für eine paneuropäische Kulturgeschichte des Mittelalters steht, in der Dichtung und Gesang die schon aus der Antike intensive Verbindung der schönen Künste bestärkte. Petrarcas Weg über Avignon nach Fontaine-de-Vaucluse, wo er sein berühmtestes Liebesepos an die Geliebte „Laura“ ersann. Weder den Ort noch die Geliebte traf ich aber auf der Reise, mehr aber hatte ich den berühmten Mont Ventoux im Blick. Wenn ich diesen Mythosberg diesmal nicht noch einmal erklomm, so wirkt seine Aura auch in seinem Blickfeld wie in meinem Gedächtnis. Umso mehr darf ich hier Petrarcas Pionierwerk der Reiseliteratur „Die Besteigung des Mont Ventoux“ (mit Fotos eines Urenkels (Constantin Beyer) von Rainer Maria Rilke als bebilderte Edition in der Insel-Bücherei, etwas hübscher als die zweisprachige nüchterne Reclam-Edition für die Lateiner) anmerken – gern als erste romantische Landschaftsbeschreibung bezeichnet und Petrarca selbst als Pionier des Alpinismus – auch wenn der Berg mehr Begehung als Bekletterung erfordert. Kein geringerer als Rilke selbst empfahl die Lektüre dieses literarischen Briefes, den Petrarca an einen befreundeten Mönch sendete. Der moderne Pedaltreter wird seine Qualen ebenso gespiegelt wiederfinden wie das irisierende Naturerleben am weißen Berg – die Herausforderung klar umrissen, wer es angehen möchte: „Verwegnes Mühen alles zwingt.“

Dass der Mont Ventoux mehr als ein mystifizierter Pilgerberg von Radlerwaden ist, dem übrigens auch der Philosoph Peter Sloterdijk mit einer Pedalexkursion huldigte, die ihn zu einigen spitzen, scharfsinnigen gleichwohl entzaubernden Anmerkungen in dem Spiegel-Interview Hundsgewöhnliche Proletarier anregten, darf man zwischen anregenden Bildern und Texten in „Die Provence – rund um den Mont Ventoux“ von Wolfgang Hillen/Corinne Bart/Friedrich Gier (Romanistischer Verlag) nachblättern. Der etwas andere Reiseführer nimmt sich dann auch den Literaten der Region an, gleichwohl hält er ein wachsames Auge auf manchmal weniger bekannte Sehenswürdigkeiten und Schönheiten dieser Ecke – auch das nördliche Baronnies. Trüffel und Oliven erfahren ebenso einen kenntnisreichen Tribut wie ein Schlaglicht auf den Mount Ventoux als Wandergebiet und den Radclub der „Bekloppten“ geworfen wird, die durch eine 4-fach-Beradlung des Berges auf allen fahrbaren Wegen an einem Tag den zweifelhaften Ehrentitel eines „Galeerensklaven“ erreichen können. Mir sind ja nicht nur auf dieser Reise Teile davon gut bekannt und doch mag mir da das Gaumenwasser weiter im Munde zusammenlaufen, seh ich in dieser Region noch etliche Wege, die noch leidlich nicht meine Pneuspuren tragen.



Fast schon als ein Ausreißer nicht nur im geografischen Sinne möchte ich den Bücherkasten mit einem Bilderbuch jenseits der hier dominanten Provence bereichern, dass natürlich auch sachkundige Erläuterungen enthält. Es wäre vermessen zu behaupten, dass Sonnenuhren exklusiv einer Region zuzuordnen seien, sind sie mitunter in vielen Teilen des Alpenraumes sehr verbreitet, aber nicht nur dort. Besonders im okzitanischen Raum sind die Zeitmesser des Schattenwurfs eine schon fast flächendeckend dörfliche Institution. Ohne das italienische Valle Stura oder die Südregionen dahingehend als weniger interessant bezeichnen zu wollen, hat sich doch in dem Department Hautes-Alpes das traditionale Malhandwerk von Ziffernblattfresken in besonderer Dichte wie auch Motivvielfalt entwickelt – schließlich ist man der Sonne besonders nah. Die freien, kurzgeschorenen Berghügel der östlichen Naturparkregion Queyras bringen wohl das gleißendste Sonnenlicht in die Augen des Reisenden, gespiegelt in den Gebirgsbächen und dem satten Grün – so habe ich es eigentlich immer wieder erlebt. Schon auf einer früheren Reise erwarb ich „Cadrans Solaires du Queyras“ von Gaëlle et Pierre Putelat (Editions du Queyras) direkt vor Ort, eine stilvolle Edition über Sonnenuhren mit Hintergründen hinein bis in die Dorfgeschichte(n) und den Maltechniken. Auch dem nicht französischsprachigen Betrachter bleibt hier noch genügend sprichwörtliche Erleuchtung zur Freude.

„Die stufenweise Gegenwart der Sonne stillt die Tragödie. Ach, scheu dich nicht, deine Jugend zu stürzen“, so etwa mag das passende Zitat zu dem Dichter René Char überleiten, der eigenständige, geradezu antagonistische Sprachbilder entworfen hat, wie er auch seine meist prosaische Dichtung mit einer Haltung gleichsetzte, und zwar die der Resistance. Er nannte sich entsprechend Poet und Resistant. Damit setzt er ein Zeichen für eine Literatur, die auch immer politisch ist, nie wertfrei dahinwabern darf: „Die treue Einfalt griff überall Raum.“ Wer mag da nicht beklemmend an die aktuellen geschichtsvergessenen Verirrungen der Wörter und Floskeln denken. Einen Einblick gewährt „Zorn und Geheimnis /Fureur et mystère – Gedichte“ (Fischer Taschenbuch). Deren Gehalt erschließt sich nicht für jeden Augenblick, man muss seine eigene Gedankenmaschine anwerfen, gewohnte Wortdeutungen neu interpretieren, semantische Fallstricke entschlüsseln. Immer wieder werden vermeintliche Irrlichter zu starken Kopfbildern: „Das vielgeteilte Erkennen // Bestürzt den Frühling mit Regen // Ein heimatlicher Duft // Ließ die entsproßene Blume währen.“ Freunde eines gereimten Lyrizismus werden hier nicht bedient. Seine Werke inspirierten Pierre Boulez zu Kompositionen, er suchte die Nähe zu Philosophen wie Albert Camus und Martin Heidegger, mit letzterem er letztlich aber (erwartungsgemäß) brach, und Henri Matisse wie Georges Braque ehrten seine Schriften mit Illustrationen. Auch seine Heimatstadt L’Isle-sur-la-Sorgue verfehlte ich auf der Tour leider um Haaresbreite im Schatten von Roussillon und Gordes.



Zum Abschluss noch ein erweiterter Hörtipp (einige weitere Tipps auch noch später im Berichtstext). Einer der herausragendsten zeitgenössischen Musiker der Region ist der aus Le Cannet stammende und in Nizza ausgebildete Richard Galliano (Ich stellte ihn bereits im Rahmen meiner Vogesentouren nach La Petite-Pierre vor), der auch auf italienische Wurzeln zurückblickt. Er begründete die traditionelle französische Akkordeonmusik mit der New Musette (ähnlich dem Tango Nuevo in Argentinien etwa durch Astor Piazzolla) für moderne Spielarten zwischen Klassik, Jazz und Weltmusik, befreite sie aus dem Mief einer selbstverliebten folkloristischen Klischeemusik aus den Gassen der Rotlichtspelunken, machte sie zur kultivierten Konzertmusik luftiger, melodischer Ausflüge über moderne Harmoniekonzepte – in Summe ein Füllhorn an Tontrauben, die weithin den Geist von Meridionale und Méditerranée tragen. Da ist immer noch wunderbar das wegweisende und in transparenter Live-Atmosphäre eingespielte Album „New Musette“ (Richard Galliano Quartet, 1991, Label Bleu). Im Trio-Format mit Gästen unterschiedlichen Backgrounds wie Michael Portal, Toots Thielemans und Didier Lockwood sehe ich mit „Laurita“ ein Album von bleibenden Wert (1995, Dreyfus Jazz). Zu den Projekten in diesem Jahrtausend gehört das Trio mit dem schwedischen Pianisten Jan Lundgren und dem sardischen Trompeter und Flügelhornisten Paolo Fresu, noch mehr als eine paneuropäische Musiksprache ausgelegt, mittlerweile erneuert in dem Folge-Album „Mare Nostrum II“ (2016, ACT Music). Natürlich sind auch zahllose Samples über YouTube verfügbar – einfach nach „Richard Galliano“ suchen.
- Update 21.11.: Das neue Album "Mare Nostrum III" wird am 25.1.2019 bei ACT Music veröffentlicht. Die Konzertpremiere soll am 1.4.2019 in der Tonhalle Zürich stattfinden (kleine Tournee danach durch Schweiz und Deutschland), wohl aber gibt es das Programm auch schon beim Umbria Winterjazz in Orvieto zwischen den Jahren zu hören.

Fortsetzung folgt