Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte

von: joeyyy

Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte - 14.12.11 16:20

20. November 2011 – Eine Landschaft, zum Sterben schön



Ich schlafe schlecht, das Haus ist sehr laut. Ich nehme die Ohropax aus den Ohren und höre Sturm und Regen. Ich stecke die Ohropax wieder rein und drehe mich nochmal um.

Gegen halb acht sind Karla und ich dann beide wach. Ein Blick aus dem Fenster (unser Zimmer ist fensterlos – ich muss raus und aus dem Flurfenster schauen) verheißt nichts Gutes: Regen, Wind, Kälte.

Für’s Frühstück werfe ich wieder den Kocher an, es gibt heißen schwarzen Tee, Oliven, Brot.

Auf der Straße dann entscheiden wir, nochmal in eine Teestube zu gehen, um die hellen Flecken oben am Himmel abzuwarten. Vielleicht bedeuten Sie ja, dass der Regen aufhört. Außerdem würden wir uns beide über eine süße Abwechslung unserer Morgen-Ernährung freuen.

In der Teestube, über der zwar „Patisserie“ steht, in der es aber – außer frischem Brot – keine Backwaren gibt, werden wir freundlich begrüßt. Es sitzen ausschließlich Männer um die Tische und trinken Tee.

Als Karla und ich dann bedient werden und frühstücken, verlassen die Männer nach und nach die Stube und setzen sich draußen hin – in die Kälte und den Wind.

Wir beide fragen uns, ob sie das wegen Karla tun. Sie trägt schließlich kein Kopftuch und tritt ziemlich selbstbewusst auf.

Die hellen Flecken am Himmel bedeuten jedenfalls nicht, dass es aufhört zu regnen. Wir beschließen, jetzt loszufahren.

Von Irghem aus geht es Richtung Süden erstmal bergab. Mit jedem Höhenmeter runter wird es spürbar wärmer. Irgendwann hört dann auch der Regen auf. Und die Sonne findet immer wieder Wolkenlücken, durch die sie die Landschaft wie mit einem Bühnen-Scheinwerfer anstrahlt.

Dann fängt es mal wieder an zu regnen. Der Regen lässt die Bergstrukturen glitzern, als seien sie mit Silber überzogen.

Da es jetzt nicht mehr so kalt ist, macht es mir überhaupt nichts aus, im Regen zu fahren. Im Gegenteil – es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass die Sonne gleich wieder rauskommt und mich trocknet.

Und weil sich Sonne und Regen abwechseln, gibt’s auch schon mal Regenbögen. Rechts neben uns dicke Wolken mit Regen, links die Sonne. Zwei Kilometer weiter ist’s andersrum. Toll.

Heute scheint irgendwie insgesamt der Tag der Landschaft zu sein. UNBESCHREIBLICH!!!

Diese Farben, diese Formen, diese Komposition – grandios. Die Berge sind wunderbar konturiert – sie wirken wie vertikal geschichtet.

Die Weite dieser Landschaft lässt mich über meine Endlichkeit nachdenken. Nein, ich bin nicht morbide oder krank oder mürbe oder erschöpft – aber mir kommt ad hoc der Gedanke: Hier könnte ich sterben – und es wäre gut. Dieses Gefühl hatte ich bisher nur auf dem Aletschgletscher in der Schweiz. Schön, dass sich meine Auswahl jetzt verdoppelt hat.

Mit dem Wind macht sich die Nähe der Wüste bemerkbar. Sand wird durch die Luft geblasen. Der Wind ist so heftig, dass ich fast und Karla tatsächlich von der Straße geweht wird. Im Straßengraben müssen wir Zuflucht vor dem jetzt entwickelten Sandsturm suchen. Karla hat Sand unter ihren Kontaktlinsen und muss sie rausnehmen. Das funktioniert aber irgendwie nicht – vor allem nicht, wenn der Sand von allen Seiten kommt. Ich ahne, was es bedeuten muss, in einen richtigen und andauernden Sandsturm zu geraten.

Nach rund einer halben Stunde ist der Spuk zunächst vorbei und wir können weiterfahren. Der Wind ist zwar immer noch stark, er weht aber nun von hinten und drückt mich mit knapp 50 Sachen auf der Geraden in Richtung Tata. Karla lässt es ruhiger angehen, ich finde das total klasse und trete gut mit.

In der Zeit, in der ich auf Karla warte, kann ich immer wieder die Kamera aus der Lenkertasche holen und mich auf diese mir unbekannten Motive konzentrieren. Eine einzige Akazie – mitten in der Steinwüste hier. Warum nur sie? Wo sind die anderen? Warum genau hier?

Wir brauchen noch Essen für heute abend und schauen in einem Dorf an der Straße nach einem Laden. Fehlanzeige. Das Dorf wirkt wie ausgestorben. Ich schiebe mein Rad in Richtung Moschee und kann eine Frau beobachten, die des Weges geht. Als sie mich sieht, versteckt sie sich schnell.

An den Türen der Häuser sind die typischen Berber-Zeichen als Ornamente angebracht.

Gegen fünf erreichen wir das Oued Tata, ein normalerweise ausgetrocknetes Flussbett, das aber durch den Regen der letzten Tage Wasser führt und die hiesige Oase mit dem Nass versorgt.

Hier finden wir einen wunderschönen Zeltplatz direkt am Fluss, kochen uns Couscous mit frischen Zwiebeln und Paprika und genießen die absolute Stille der Gegend und vor allem den schwarzen Himmel mit einem Sternenbild, das ich schon ewig nicht mehr gesehen habe.

Selbst die Milchstraße ist wunderbar zu erkennen – bei uns in Europa ist das wegen der „Lichtverschmutzung“ durch die Städte kaum noch möglich.

Ich schaue nochmal auf meinen Tacho: 28er Schnitt über den Tag. Eigentlich viel zu schnell für diese Landschaft. Und das sage ich als Radfahrer…

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21. November 2011 – Prozessionen, Polizei, Persönliches



Kinder wecken uns – sind auf dem Weg zur Schule, schauen zu uns rüber, zögern, näher zu kommen. Schon lange habe ich diese süße Mischung aus Schüchternheit und Neugier nicht mehr gesehen.

Danach folgt eine kleine Ziegenherde. Die Hirtin ist in einen dunklen Talar gekleidet.

In Tata findet eine Prozession statt. Die marokkanischen Nationalflaggen flattern im Wind. Diese blutroten Tücher allerorten finde ich sehr schön. Vor allem mit diesem dunkelgrünen Stern in der Mitte. Ich mag den Kontrast.

Ich weiß nicht ob es eine religiöse oder politische Veranstaltung ist. Jedenfalls singen die Männer (Frauen sind nicht dabei) Kanon-ähnliche Strukturen und Rhythmen. Die Schwingungen der Gesänge, die gleichmäßige Trägheit der Schritte, das Flattern der Fahnen – irgendwas wirkt da gerade sehr beruhigend auf mich. Stundenlang könnte ich zuschauen und zuhören, die Augen schließen und nur zuhören.

Wir entscheiden mit Rücksicht auf die Kultur der Menschen und auf die uns unbekannten Motive und Ziele dieser Prozession, ihr nicht weiter zu folgen sondern jetzt raus zu fahren – Richtung Wüste.

Der nächste Ort ist 75 Kilometer entfernt: Tissint. Wir prüfen nochmal unsere Wasservorräte und fahren los.

Die Landschaft gewinnt an Weite, die Berge sind schwarz, braun, grün.

Kurz vor Tissint kündigt sich die Sahara an: Eine Art Schlucht ist in festen Sand gefressen. Die Strukturen werden durch die um diese Jahreszeit tief stehende Sonne wunderbar schattiert.

In Tissint kontrollieren uns zwei Polizisten. Sie fragen wo wir herkommen, hinwollen und wo wir schlafen wollen. Ich antworte, dass wir heute nur noch kurz und morgen bis Foum-Zguid wollen. Wann wir dort ankommen, wollen die Männer wissen. Gegen vierzehn Uhr. Einer geht mit unseren Pässen ins Gebäude, ich frage den anderen ob es Probleme mit oder für uns allgemein und an der algerischen Grenze im Besonderen gäbe. Nein – keine Probleme, alles sicher, alles klar. Ich überlege schon, was uns das kosten wird, hier wieder weiterzufahren.

Was mich allerdings beruhigt, ist die Tatsache, dass das hier keine kleine Dorf-Polizei-Station ist, in der die eine die andere Hand wäscht. Hier gehen auch Zivilisten und Soldaten ein und aus. Und zwar dauernd.

Der Polizist, der uns bewacht, und ich unterhalten uns in einer Mischung aus Englisch und Französisch. Nach rund fünfzehn Minuten kommt der andere wieder raus und fragt nach unseren Berufen. Manager und Scientist. Beide wollen wissen, was das bedeutet. Ich frage mich, warum die das wissen wollen. Ist es richtig, zu signalisieren, dass man einen einträglichen oder bedeutungsvolleren Beruf als andere hat? Ach – schnickschnack, was ist das ist. Ich bleibe bei der Wahrheit, auch hier. Nach einer kurzen freundlichen Erläuterung fahren wir weiter.

Die Menschen hier sind irgendwie ganz anders als bei den Berbern in den Bergen. Dunkler, viele Schwarz-Afrikaner. Wir kaufen uns noch Wasser, Brot und etwas Käse und fahren weiter. Karla fühlt sich nicht wohl hier als Frau mit nackten Beinen.

Im Oued el Maleh finden wir einen Bilderbuch-Platz zum Zelten. Ein kleiner Fluss fließt hier und wir stellen das Zelt auf einen Rasenplatz, eingerahmt von Dattelpalmen. Die Datteln können wir einfach so vom Boden auflesen, waschen und essen.

Wir genießen den Luxus, uns und unsere Wäsche im Bach waschen zu können. Die Sonne malt beim Untergehen die Palmen orange und die Wolken lila an.

Abends im Schlafsack gehe ich mal meiner Frage nach, warum eine Reise zu zweit so ganz anders ist als eine Reise allein. Es hat überhaupt nichts damit zu tun, ob Karla und ich uns verstehen oder nicht, ob wir gleich kräftig sind oder nicht, gleiche oder unterschiedliche Biorhythmen haben. Es geht auch nicht darum, was besser oder schlechter wäre. Es geht darum, das „anders“ zu erkennen. Ich merke, dass wir gegenseitig emotionale Impulse aussenden, auf die wir gegenseitig auch reagieren und mal mehr, mal weniger tief eingehen.

Das bindet Zeit und Energie, die ich sonst für mein freies Denken, Fotografieren, Reden, Beobachten, Ausprobieren einsetze. Also gebe ich etwas auf, das ich sonst sehr schätze und von dem ich auf Reisen und auch hinterher sehr zehre.

Andererseits genieße ich die Diskurse, die Karla und ich führen. Ihre Sicht auf die Verhältnisse hier, die Schilderungen ihrer so ganz anderen Gefühle, die sie hier entwickelt. Das nehme ich mit und das bereichert auch meine Eindrücke.

Es ist eben „anders“, zu zweit zu reisen – nicht besser, nicht schlechter.

Und es ist ganz „anders“, mit jemandem zu reisen, den man noch gar nicht so richtig kennt, noch nie in körperlichen, emotionalen oder sozialen Extremsituationen kennen gelernt hat. Ich weiß nicht, ob ich das nochmal machen möchte.

Und für mich ist es auch ganz „anders“, mit einem Menschen zu reisen, den ich liebe. So wie mit meinem Sohn im Sommer von Goslar nach Berlin. Ich weiß, dass ich das gerne mal wieder machen möchte.

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