Re: Langzeitreisen per Fahrrad

von: veloträumer

Re: Langzeitreisen per Fahrrad - 21.09.07 19:09

Hallo Bettina,

zunächst einmal volle Zustimmung für diese Kopfschütteln über die extreme Sparmentalität im Urlaub.
Ich habe mich auch schon aufgeregt, wenn gut verdienende deutsche EDV-Leute in Frankreich sich über 20 Euro für eine Festunterkunft beklagt haben, sich abends Tütennudeln reingezogen haben und gar noch einen gemeinsamen Drink im Restaurant gegenüber abgelehnt haben. Am nächsten Morgen waren sie dann sehr irritiert, dass ich mich u.a. mit leckerer Orangenente mit einem köstlichen Gratin Dauphinois (nie wieder so gut bekommen) für 40 Euro verköstigt habe (Wein, Vorspeise und Desert war natürlich auch noch dabei) - ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.

Zum Kernpunkt: Glückliche Heimkehr und Arbeit macht Spaß.
Gitb es immer mal wieder. Dass hier im Reiseradforum viele mit Fernweh unterwegs sind, ist auch klar. Dass in Deutschland die Unzufriedenheit mit der täglichen Arbeit größer ist als der Schweiz, ist nicht unbedingt verwunderlich.

Ich habe selbst mal 8 Monate als Praktikant in der Schweiz gearbeitet, zudem für ein paar Wochen nochmal als Ferienjobber. Sowohl als Praktikant wie als Hilfskraft in sehr unterschiedlichen Betrieben wurde ich als Mensch, der seine Arbeitskraft und Intelligenz zur Verfügung stellt ernst genommen. Das äußert sich schon in der Art der Vorstellung gegenüber Mitarbeitern im Betrieb. Das ist in deutschen Betrieben eher selten der Fall. Und setzt sich bei festeingestellten Arbeitskräften fort. Dass in Schweizer Betrieben auch mit fintigen Intrigen gearbeitet, ist mir auch bekannt. Aber es gibt eine gesündere Basis.

Der Mensch ist ein Kostenfaktor - keine Ressource. Entsprechend wenig Kompetenzen werden dem gewöhnlichen Arbeitnehmer übertragen. Anreize und Angebote zur Fortbildung sind Fehlanzeige - in Europa ist Deutschland bei der betrieblichen Fortbildung eines der Schlusslichter.

Als Bewerber für eine Praktikantenstelle war ich mal bei einer großen Bank in Zürich (letztlich wurde ich nicht genommen). Die Personalreferentin sagte mir, es wären deutsche Studenten auf dem Stuhl schon umgekippt, als sie hörten, welches Salär ihnen zustehen würde. Sie wollte wissen warum. Es sei doch schließlich legitim, das Leben kostet Geld und als junger Mensch hat man Ansprüche. In Deutschland wirst du eine solche Haltung des Arbeitgebers 1:1000 oder noch seltener finden. Der deutsche Unternehmer lässt sich Praktikanten vom Staat durchfüttern oder speist sie minderwertig ab oder bildet sie nicht aus. Diese Unternehmermentalität ist heute auch in der realen Arbeitswelt weit verbreitet: Ein-Euro-Jobs, Kombi-Lohnmodelle etc. lassen den Arbeitgeber Trittbrett fahren. Der Staat zahlt. Und: Der Arbeitnehmer ist mir nichts wert. Mit diesem Gefühl täglich abgespeist zu werden, macht wenig Freude auf Arbeit.

Heute bin ich selber auf 80% Arbeitszeit mit entsprechend weniger Gehalt gesetzt worden traurig - die Firma gibt nicht mehr her. Allerdings lässt sich davon auch kaum noch Leben - zumindest hier in Stuttgart. Oder nur noch Radreisen rund um den Fernsehturm. Was ich arbeite, disqualifiziert mich immer mehr auf dem Arbeitsmarkt, weil veraltet und ohne echte Kompetenz. Ich habe nur die Wahl zwischen Sumpf und Hölle. Wo soll jetzt die Motivation herkommen? - Warum soll ich am Ende ein Radtour Lust haben zurückzukehren? - Gut, ich bin weder heimattreu noch familiengebunden, das macht die Einstellung leichter. Mit guter Arbeit wäre das vielleicht auch anders. Aber jetzt ist es einfach so, Lust habe ich nicht zurückzukehren - es ist nur wegen Lohn und Brot.

Wenn es zwischen Bärenplatz und Zytgloggeturm ordentliche, Lust-machende Arbeitsplätze gibt, komm ich auch in die Schweiz. Aktuell habe ich hier in Deutschland gar nix zu verlieren. Je nach Perspektive kann ich alles oder gar nichts... alles rund ums Schreiben (Journalismus etc.), public relations, Politikwiss., Kultur-, Wirtschafts und Tourismusorganisationen oder ein gut bezahlter Briefträger ist auch nicht schlecht...

Dass sich in dieser abweisenden Arbeitswelt immer mehr Menschen auf einer sozialen Hängematte einrichten, kann ich zumindest nachvollziehen - auch wenn ich selbst wohl nicht dazu neigen würde. Dennoch, du solltest nicht unterschätzen, welche mentale Belastung es bedeutet, nicht mehr gebraucht zu werden. Habe diesen Drcuk gespürt als ich mal arbeitslos war.

Viele aus dem Radforum sind natürlich auch einfach verwegene Spinner, die sich nicht mit dem Otto-Normalo vergleichen lassen. Habe - obwohl nicht in Exotenländern unterwegs - auch immer wieder mit diesem Titel zu kämpfen - doch trage ich den Spinner gelassen und mit Stolz. Lieber ein Spinner in der Ferne als ein Spießer in der Heimat! cool