Re: Umstieg auf Liegerad für Radreisen geplant?

von: HeinzH.

Re: Umstieg auf Liegerad für Radreisen geplant? - 27.06.03 20:30

"Was mich aber am meisten irritiert: Warum polarisiert eigentlich das Thema Liegerad so stark verwirrt ?" schrieb Detlef

Dazu paßt ein Dialog* aus dem Liegradforum, den ich bereits vor einiger Zeit einmal an passender Stelle einstellte:
*Kein Lesezwang, keine Zwangsbeglückung

>Geschrieben von Kurt Fischer am 13. Mai 2003 21:55:38:

Als Antwort auf: Instinktive Ablehnung des Liegerads? geschrieben von Johann (B) am 13. Mai 2003 20:47:32:

Johann:
Immer wieder wird im Forum die Frage gestellt, wieso eigentlich das Liegerad so ein Schattendasein fristet.


Kurt:
Derzeit schon, aber es gibt ja seit einigen Jahren ziemlich deutliche Anzeichen dafür, dass das Liegerad dabei ist, mehr und mehr aus diesem Schatten herauszutreten, auch wenn das vielen Liegeradlern nicht passt, die gerne etwas Besonderes bleiben wollen.

Aktuellstes Beispiel vielleicht der Erfolg der Spezi (Anmerkung HeinzH.: Spezi = Spezialradmesse in Germersheim, findet jedes Jahr am ersten Wochenende nach Ostern statt. http://www.spezialradmesse.de/) , vor nur zehn Jahren noch absolut undenkbar. Schon klar, dass wir Entwicklungen, die allmählich erfolgen, nicht so deutlich und bewusst wahrnehmen, aber gelegentlich sollten wir uns schon die Fortschritte vergegenwärtigen, die das Liegerad im vergangenen Jahrzehnt erfahren hat.



Johann:
Auch bei nüchterner Betrachtung sind ja die Vorteile für bestimmte Einsatzzwecke nicht von der Hand zu weisen. Nun frage ich mich, ob hier nicht im Unterbewusstsein Prägungen vorhanden sind.


Kurt:
Kommt darauf an, was Du darunter verstehst. Die Position auf dem Lieger ähnelt ja im Grunde der im Auto sehr, besonders mit Verkleidung, insofern sollte sie nichts wirklich Neues darstellen. Trotzdem nehmen wir uns gerade dadurch, dass wir als Radfahrer eine bequeme Autoposition einnehmen, etwas heraus, das von vielen als unerhört empfunden wird und uns zwischen alle Fronten bringt. Radfahrer und Fußgänger beneiden uns um die Bequemlichkeit und sehen in uns eine Art "Verräter", und Autofahrer empfinden unsere Art wie wir uns in den Sitz "lümmeln" als anmaßend, das steht ja schließlich nur ihnen zu.

Darauf gebracht hat mich eine ältere Frau, die von mir auf meinem S600 überrascht wurde, als sie mit ihren beiden Hunden kämpfte. Sie brach bei meinem Anblick in so spontanes und lautes Gelächter aus, dass ich ins Nachdenken kam, obwohl mich sonst dämliche Reaktionen kalt lassen. Als Laie kann ich nur Vermutungen anstellen.

Tröste Dich, Johann, auch Fachleute können nur Vermutungen anstellen, das nennt sich dann Hypothese und klingt natürlich wesentlich beeindruckender. ;-)

Die Frau zeigte das ganz normale Verhalten nicht übermäßig intelligenter Menschen, die mit etwas Neuem oder Schockierendem konfrontiert werden. Sie lachen, aus Angst, aus Hllflosigkeit, aus Verachtung, etc..., um sich so von dem Druck zu befreien, der sich in ihnen angestaut hat.
Ein intelligenter Mensch dagegen wird Dich neugierig interessiert betrachten und sich dann seine Gedanken machen, selbst wenn er noch nie ein Liegerad leibhaftig gesehen hat.


Johann:
Wird etwa die liegende Position als unvereinbar mit Geschwindigkeit und Anstrengung betrachtet? Wird das Liegen automatisch mit Ruhe, Schlaf (Vgl. die Standard-Bemerkung "Schlaf nur nicht ein!"), ja sogar mit Sex in Verbindung gebracht? Ist demgegenüber ein "Stahlross", das geritten wird, unterbewusst mit Überblick, Überlegenheit, kämpferischer Beherrschung des Tieres bzw. der Maschine, sozialer Dominanz (Reiter=Ritter) verknüpft?


Kurt:
Nein. Denken wir an das Verhältnis Chef-Untergebener. Wer _darf_ sitzen? Wer _muss_ stehen oder gar knien? Es stimmt, dass die Position auf dem Upright dynamischer ist, man ist scheinbar in der besseren Verteidigungs-, aber eben auch Fluchtposition. Auf dem Liegerad dagegen signalisiere ich ganz eindeutig, dass ich mich für so stark und souverän halte, dass ich mich anderen gegenüber ohne Furcht in einer "angreifbaren" Position zeigen kann. Ich nehme mir da Bequemlichkeit und Komfort heraus, wo andere buckeln und sich die Beine in den Bauch stehen müssen.

Um das noch etwas komplizierter zu gestalten, kommt noch dazu, wie ich mich auf dem Lieger präsentiere. Unsicher, den Blick des Gegenübers suchend, quasi um seine Erlaubnis für meine Existenz bittend?
Oder souverän und selbstbewusst, dem anderen gar keine Chance gebend, auf mich herunter zu sehen.

Ich habe sehr deutlich im Laufe der Jahre erfahrten, wie sich die Reaktionen der Menschen auf mich verändert haben. Je selbstbewusster und überzeugter ich von mir und meiner Entscheidung für den Lieger wurde, desto weniger negative Rückmeldungen kamen da zurück. Inzwischen sind die Reaktionen in unserer Gegend(Chiemgau) überwiegend positiv, die paar Ausnahmen stecke ich locker weg. Momentan fahre ich wirklich mit einem guten Gefühl durch die Gegend mit dem befriedigenden Bewusstsein, jetzt das zu ernten, was ich in all den Jahren zuvor mühsam gesät und vorbereitet habe.
Schon dreijährige Knirps rufen hier öfter: "Schau. Mama, ein Liegerad!" und von immer mehr Kinder ist zu hören: "So ein Rad will ich auch mal haben."

Kurz: Der Boden ist bereitet, die größten Widerstände sind bezwungen, der wichtigste Schritt auf dem Weg zur weiteren Verbreitung des Liegerades und seiner Anerkennung als normales Fahrzeug ist getan. Ich habe dennoch nicht die Absicht, mich auf meinen Lorbeeren auszuruhen, schließlich fahre ich für mich und nicht für die anderen. Aber gerade das wird wohl den Großteil meines Erfolges ausmachen.

Johann:
Wo ist ein Fachmann der Tiefenpsychologie, der uns diese Abgründe erklärt? Mit rein rationaler Argumentation oder Gedankenspielen a la Jenne kommen wir offenbar nicht weiter!


Kurt:
Doch, ich denke dass uns gerade der Verstand weiterbringt. Der sagt mir nämlich eindeutig, dass ein Rad Erfolg haben wird, das Spaß und Komfort bringt. Und diese Erfahrung werden noch sehr viele Menschen machen können, sobald sie es sich zugestehen und auch die Gelegenheit dazu erhalten.<