Re: Haben Pinion-Getriebe auch Kaffeemühlengänge?

von: superbrot

Re: Haben Pinion-Getriebe auch Kaffeemühlengänge? - 12.06.20 21:41

Nachdem ich gestern nacht den Abschicken-Knopf gedrückt hab, kam mir ein paar Minuten später der Gedanke, ich hätte Blödsinn geschrieben. Heute sieht das wieder anders aus, und alles macht wieder mehr Sinn.

Um zu verstehen, wie eine Nabe durch Überlastung kaputt gehen kann, finde ich es hilfreich, Verschiebe- und Drehbewegungen getrennt zu betrachten (von mir aus "Translations- und Rotationsbewegungen"). Die HR-Nabe wandelt eine Verschiebebewegung der Kette in eine Drehbewegung um. Allerdings bringen diese beiden Bewegungsarten eine HR-Nabe auf unterschiedliche Weise zum Versagen.

Umgekehrt wandelt das Tretlager eine Drehbewegung in eine Verschiebebewegung der Kette um. Deshalb treffen prinzipiell ähnliche Überlegungen zu, allerdings vernachlässige ich das mal. Denn das Tretlager ist größer dimensioniert als eine HR-Nabe, und es hat entweder keinen Freilauf (Kettenschaltung) oder übertragt andere Kräfte als die HR-Nabe (Pinion). Freu mich aber über Gedanken dazu.

Das Versagen der HR-Nabe durch eine Drehbewegung ist einfacher zu erklären. Bei gleicher/-m Übersetzung/Leistung/Drehmoment spielt es keine Rolle, wie groß das Kettenblatt (bzw. Ritzel) ist. Massgeblich ist nur, wie kräftig man tritt. Die HR-Nabe geht üblicherweise dadurch kaputt, dass die Sperrklinken im Freilauf überlastet werden und brechen, weil sie das am kleinsten dimensionierte Bauteil im Antrieb sind. Deshalb hat der Zahnscheibenfreilauf von DT-Swiss/Hügi-Naben einen Ruf, besonders robust zu sein, aber unzerstörbar ist der auch nicht.

Die Verschiebebewegung ruft jedoch einen anderen Fehlermodus hervor. Die Kette greift mit einer exzentrischen Kraft die HR-Nabe an (d.h. abseits der Drehachse). Nur weil die HR-Nabe am Ausfallende abgestützt wird, kann sie überhaupt die Verschiebebewegung der Kette in eine Drehbewegung umwandeln. Für diesen Fehlermodus spielt allerdings das Drehmoment keine direkte Rolle, sondern mit welcher Kraft die Kette auf die HR-Nabe wirkt.

Bildlich ist die Achse der HR-Nabe ein Gummistab, der zwischen den Ausfallenden eingespannt ist. Wenn eine Kraft zwischen den Ausfallenden (also da, wo das Ritzel sitzt) den Gummistab nach vorne zieht, verbiegt er sich. Natürlich ist die Achse nicht aus Gummi, sondern aus Stahl, aber auch der verbiegt sich. Und eine solche Biegung sorgt dafür, dass Lager schräg belastet werden, die Sperrklinken nicht nur in ihrer Hauptrichtung belastet werden und im schlimmsten Fall sich die Achse dauerhaft verformt. Es ist auch nicht schwer, sich vorzustellen, dass ein paar Speichen mehr belastet werden, wenn sich das Nabengehäuse leicht biegt. Deshalb ist die Hope-Nabe mit ihrer 17-mm-Achse schon mal im Vorteil, aber auch der Hope-Freilauf scheint ausreichend dimensioniert zu sein.

Die Pinion hat das Problem, mit deutlich höhere Kräften an der Kette zu ziehen als das Muskelkraft könnte, eben weil die Übersetzung vor der Kette stattfindet, nicht danach.

Die Rohloff liegt in einem ähnlichen Bereich der Kettenzugkraft wie Kettenschaltung oder Singlespeed. 38/16 war auch schon vor der Rohloff nicht ungewöhnlich, und es existiert eine lange Erfahrung mit der ausreichenden Dimensionierung von HR-Naben und -Achsen in diesem Bereich.

Weiter oben haben wir festgestellt, dass der Kettenzug (also die Kraft, die die Nabe nach vorne zieht) bei gleicher Leistung/Drehmoment/Übersetzungsverhältnis je größer wird, je kleiner das Kettenblatt und das Ritzel sind. Das gilt prinzipiell für Singlespeed und Kettenschaltung genauso. (Konstruktionsdetail bei letzterer: die kleinen Ritzel liegen weiter außen, also ist der Hebelarm zwischen Ritzel und Ausfallende kleiner.)

Um zu verstehen, warum das so ist, finde ich das folgende Experiment am einfachsten: bei vorgegebener Übersetzung bewegt sich die Kette schneller, je größer das Kettenblatt und das Ritzel sind. Habe vorhin meine Kette markiert, einmal mit 22/13 eine volle Radumdrehung gekurbelt, und einmal mit 44/26. Bei letzterer Grösse hat sich die Markierung an der Kette genau doppelt so weit bewegt. Das heisst aber auch, dass ein einzelnes Kettenglied bei grossem Kettenblatt und Ritzel weniger Energie befördert, dafür aber mehr Kettenglieder pro Sekunde bewegt werden. Lässt sich aber auch theoretisch mit Drehmomenten und Hebelarmen erklären.

Der schlimmste Fall ist also eine Pinion mit kleinen Ritzeln. Bei der Rohloff ist prinzipiell 40/20 auch besser als 32/16, die ist aber bei weitem nicht so stark davon betroffen. Und grundsätzlich helfen mehr Zähne sowieso besser gegen Ritzelkaries.

Nur hat leider dein Radhändler nicht damit recht gehabt, dass die Pinion eine hochwertige HR-Nabe braucht "aufgrund hoher Drehmomentkräfte". Klar dürfen die Sperrklinken nicht unterdimensioniert sein, aber das sind sie heute selten. Gebraucht wird eine besonders steife HR-Achse aufgrund hoher Kettenzugkräfte, und das findet sich vor allem bei hochwertigen Naben. Ausserdem sollten die Kettenstreben vielleicht höher dimensioniert sein als bei einem herkömmlichen Rahmen, weil sie stärker durch den Kettenzug komprimiert werden. Aber das sollten die Rahmenbauer schon herausgefunden haben und hat auch nichts mit der HR-Nabe zu tun.

PS: ich glaube, wir haben noch nicht alle Fehlermodi gefunden. Gibt bestimmt noch irgendwelche Torsionsbewegungen im hinteren Rahmendreieck, die wir noch nicht betrachtet haben. Insofern kein Anspruch auf vollständige Richtigkeit hier. listig