Probefahren

von: Anonym

Probefahren - 27.11.08 22:33


Ich hatte sämtliche Tests gelesen. Alle Radmagazine gekauft, alle Foren durchforstet.
Ich war bereit, Tausende von Euros in ein neues Fahrrad zu investieren.
Und ich hatte Listen.
Testsiegerlisten, Ausstattungswunschlisten, Preislisten.
Ich verspürte die Vorfreude wie ein Kind die Vorweihnachtszeit.

Und ich hatte meinen Favoriten, den Testsieger aller Klassen und erklärten Liebling der Bike-Redaktionen. Die Vision des ultimativen Reiserades.
Ich war beschlagen. Ich war vorbereitet. Ich wusste mehr als jeder Händler. Ich hatte sämtliche Kataloge auswendig gelernt. Nachts träumte ich die Hochglanzfotografie der Herstellerbroschüren nach und lag wach vor Verlangen.

Dann war der Rausch vorbei, ich kam wieder zu mir und sprach zu mir selbst: Fast hätten sie dich eingelullt, fast hätten sie dich gekriegt.

Ich klopfte mir selbst auf die Schulter und begann das Probefahren.

Und war mit einem Schlag ernüchtert.

Dieser 3500 Euro Roller war ein Schlag ins Gemüt: Stuckernde Bremsen mit sich aufschwingendem Steuerkopf, ausgeprägtes Einnickverhalten mit der Unmöglichkeit freihändig zu fahren und Geschepper von den Schutzblechen, die Nabe keuchte.
Wie die wohl zu ihren ‚Super’-Urteilen gekommen sind und ihrem ‚Überragend’....?

Ich fuhr alles Mögliche: Unergonomische Drehgriffe, unerreichbare Hebel, quietschende Bremsen, schabende Schutzbleche, schleifende Kettenschützer, zu kurze, zu lange Ständer, eisenblechharte Sättel, ratternde Ketten, schiefstehende Lenker, zu kleine und zu große Rahmen, Naben mit hübschen Knackslauten, Rahmen mit Dauergeradeauslauf und Reifen ohne Luft.

Langsam begann ich mich zu lösen von den Vorstellungen wie ein Reiserad zu beschaffen sein hat.

Wenn es Dir ums Treten geht, sagte ich mir, kauf Dir einen Heimtrainer.
Wenn es Dir ums Reisen geht: Du hast immer noch zwei Beine mit Füßen dran.

Ich begann, meine Prioritäten zu überdenken.
Und ich begann, diesem seltsamen Materialfetischismus in mir keine Nahrung mehr zu geben.
Dem Markenzwang, dem Preisdiktat, dem Statusgeheule. Dem neuesten, superultimativen HighTechUltraCarbonStyleBigPopperAnschraubteil mit CoaxialHemmung und selbstlösenden Edelstahlschrauben.

Plötzlich war ich gar nicht mehr so unzufrieden mit meinen Rädern und ich fragte mich: Was hindert Dich eigentlich daran, weiter mit Deinen alten Fahrrädern auf Tour zu gehen?

Nun aber habe ich doch noch ein Fahrrad gefunden.
Mein ultimatives Reiserad ist eigentlich eine Art Stadtrad, das ich nur deshalb nicht näher beschreibe, um mich gegenüber der Fraktion der HardcoreAlaskaFeuerlandtretreisenden nicht der Lächerlichkeit preiszugeben.
Ich sollte mich schämen, aber ich tu’s nicht.

Denn wohin und womit ich reise, ist nebensächlich.
Das Reisen beginnt dort, wo das Vergleichen aufhört.