Wer im deutsch-tschechischen Grenzgebiet dem Iron-Curtain-Trail in nördlicher Richtung folgt, erlebt eine wahrhaft naturbelassene und menschenleere Landschaft. Besonderen Eindruck haben bei mir die "Untergegangenen Dörfer" hinterlassen. Der in der Zeit des "Kalten Krieges" entvölkerte Landstrich erzeugt eine sehr eigenartige Stimmung. Im Zuge meiner Deutschland-Umrundung habe ich die Region wechselweise auf dem Grünes-Dach-Radweg und dem Iron-Curtain-Trail durchfahren. Insbesondere in Westböhmen stößt man dabei immer wieder auf Hinterlassenschaften ehemals deutscher Besiedelung. Es ist nicht zuletzt das Verdienst vielfältiger Privatinitiativen, dass die Erinnerung an diese Zeit am Leben gehalten wird.
Nachfolgend ein Auszug aus meinem Reisbericht. Den vollständigen Beitrag mit Bildern findet ihr unter
https://seorsum.blog/2018/01/10/untergegangene-doerfer/#more-409mit besten Grüßen
Thomas
Als ich an diesem Morgen starte, weiß ich noch nicht, dass mich die wohl eindrucksvollste Etappe meiner diesjährigen Tour erwartet. Mein Plan ist, westlich der Grenze Richtung Norden zu radeln und auf tschechischer Seite wieder zum Ausgangspunkt in Waldmünchen zurückzukehren. Kurz vor dem Silbersee fädele ich mich auf dem Grünes-Dach-Radweg ein, der mich immer tiefer in die grenznahen Wälder führt. Über Charlottenthal erreiche ich den Flecken Schwarzach, direkt an der Grenze zu Böhmen. Wenn es einen Ort gibt, an dem die Zeit stehen geblieben ist, dann ist er genau hier. Wenige, teilweise verfallene Häuser säumen die schmale Straße, die sich zum alten Zollhäuschen windet. Die Ortschaft, die früher auch jenseits der Grenze einen böhmischen Ortsteil hatte, endet hier abrupt. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Etwas zögerlich folge ich der Beschilderung Richtung Rybnik. Auf einer Anhöhe weckt ein Schild mit mehrere Ortsnamen und dem Zusatz „Untergegangenes Dorf“ mein Interesse.
Neugierig geworden verlasse ich das asphaltierte Sträßchen und balanciere den mit Schlaglöchern übersäten Weg Richtung Süden. Es dauert nicht lange, bis am Wegesrand, vom dichten Gestrüpp fast verschluckt, das erste Kreuz auftaucht. Anger ist eines von vielen Dörfern, die nach Kriegsende und Vertreibung der deutschen Bevölkerung, dem Erdboden gleichgemacht wurden. Ich rolle vorbei an weiteren Kreuzen, die den Standort der spurlos verschwundenen Orte Dianahof, Bernstein, Kreuzhütte und Paadorf markieren. Schließlich entdecke ich im Wald einen verfallenen Friedhof. Er gehört zu Grafenried, einem Dorf, das früher aus 42 Häusern, einer Kirche aus dem 18. Jahrhundert und einer Brauerei bestand. Bis 1946 lebten 222 Menschen hier.
Im Rahmen eines deutsch-tschechischen Gemeinschaftsprojektes wurden viele Grundmauern freigelegt und die Überreste der zerstörten Kirchen konserviert. Auf kleinen Tafeln sind Fotografien der Gebäude zu sehen und Wissenswertes über deren Bewohner zu lesen. Hausrat und Gebrauchsgegenstände, die aus dem Schutt geborgen wurden, sind nun auf den alten Fußböden und Mauerresten drapiert. Es ist eine wahrlich beklemmende Atmosphäre.
Nur einen knappen Kilometer weiter überquere ich wieder die Grenze und fahre durch den bayerischen Ort Untergrafenried. So etwa, stelle ich mir vor, könnte heute auch das verschwundene Dorf im Wald hinter mir aussehen. In diesen Gedanken vertieft, kehre ich zu meinem Stellplatz am Perlsee zurück.
Das Wetter hat sich verschlechtert. Der von den Landwirten herbeigesehnte Regen ist nun da. Ich überführe mein Reisemobil in sein nächstes Quartier auf dem Trögerhof in Waidhaus. Im Verlauf meiner diesjährigen Tour haben sich Stellpätze auf Bauernhöfen zu meinen Favoriten entwickelt. Hier ist es schön, nicht zu voll, preiswert und ich schwätze gerne mit dem Bauern oder der Bäuerin. Trotz der Schauer setze ich mich auf mein Rad und fahre Richtung Osten nach Tschechien. Kurz nach der Grenze folge ich dem „Iron-Curtain-Trail“ nach Süden. Bis nach Rybnik rolle ich nur durch menschenleeren, dichten Wald. Zu hören ist nur noch der Wind in den Baumwipfeln und das monotone Prasseln der Regentropfen auf meinem Fahrradhelm. Ich verliere zunehmend das Gefühl für Zeit und Entfernung. Unvermittelt taucht plötzlich eine Wegweisung nach Schwarzach auf. Am Vortag war dieser Ort für mich noch Sinnbild für Abgeschiedenheit, jetzt wirkt er wie das Tor zur Zivilisation.